Shinsekai: Die Entwicklung und Geschichte von Ōsakas Retroviertel
Shinsekai in Ōsaka gilt als nostalgisches Retroviertel im Shōwa-Stil und erfreut sich großer Beliebtheit bei Besuchern der Stadt. Tatsächlich repräsentierte das Viertel dabei zu seiner Gründung im Jahr 1912 insbesondere Internationalität und Moderne. Seitdem hat sich das Gebiet schließlich von einem Vergnügungsviertel über eine lokale Einkaufsmeile bis zum heute bekannten Touristenmagneten entwickelt. Die farbenfrohe Geschichte Shinsekais stelle ich dir im Folgenden genauer vor.
Das ursprüngliche Shinsekai: Ein modernes Vergnügungsviertel
Shinsekais Geschichte startete zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Austragungsort der Nationalen Industrie Expo. Daraufhin wurde der Stadtteil zum modernen Vergnügungsviertel.
Die Nationale Industrie Expo
Noch im späten 19. Jahrhundert bestand das Gelände rund um Shinsekai hauptsächlich aus Feldern und lag vor dem eigentlichen Stadtgebiet Ōsakas.[1] Erst mit der offiziellen Gründung der Stadt Ōsaka im Jahr 1889 starteten Projekte zur Umstrukturierung und Erweiterung des Stadtbildes. Im Rahmen dieser wurde beschlossen das Land Shinsekais für die Nationale Industrie Expo im Jahr 1903 zu erschließen.[2] Zunächst wurde ein Eisenbahnanschluss verlegt, danach begannen Bauarbeiten an Messeeinrichtungen und Infrastruktur.[3] Durch die Jobs in Vorbereitung und Ausführung der Expo wurden zudem viele Arbeiter und Tagelöhner angelockt. Um diese besser zu beherbergen, verlegte die Stadt die Slums in den Süden des heutigen Shinsekais.[3]
Die Messe zeigte insbesondere die technologische Entwicklung und Modernisierung Japans auf und beinhaltete zusätzlich internationale Exponate aus Ländern wie Deutschland, Großbritannien und den USA. Dank vielfältigen Ausstellungsstücken, Vergnügungsanlagen und der beeindruckenden nächtlichen Beleuchtung kamen Besucher aus dem ganzen Land in die Stadt. Dadurch bescherte die Nationale Industrie Expo der Stadt Ōsaka nicht nur einen guten Ruf, sondern auch einen Boost der Wirtschaft.[2]Die Gründung von Shinsekai
Nach der Expo sollte der moderne Eindruck erhalten bleiben, wodurch rund um den Bahnhof ein international-anmutender, futuristischer Vergnügungspark aufgebaut wurde. Die Bauarbeiten verzögerten sich durch den Russisch-Japanischen Krieg jedoch mehrfach, so dass der Luna Vergnügungspark inklusive des Tsutenkaku Turmes seine Pforten erst 1912 öffnete.[3] Das gesamte Gebiet Shinsekais repräsentierte zu diesem Zeitpunkt die Modernität Ōsakas sowie internationale Städte. Dabei wurde der Luna Park nach Vorbild des gleichnamigen Parks in New York gestaltet, der Tsutenkaku Turm wurde dem Eiffelturm nachempfunden und sogar das Maskottchen des Viertels Billiken wurde aus den USA importiert.[1][3][6] Passend zur modernen Gestaltung erhielt das Gebiet seinen heutigen Namen: Shinsekai – Neue Welt.
Shinsekai vor dem 2. Weltkrieg
Shinsekai entwickelte sich schnell nach der Gründung zu einem vollwertigen Vergnügungsbereich. Während man im Norden der Stadt hauptsächlich Essen und Shopping frönen konnte, gab es im Süden reichlich Vergnügungsoptionen. Diese wurden nach der Eröffnung stetig weiter ausgebaut. So ließen sich Theater und später Kinos nieder, 1918 wurde das Rotlichtviertel der Stadt Tobita Shinchi in den Süden Shinsekais verlegt, 1919 öffneten eine Sumo Arena und der Zoo im Tennōji Park und 1922 wurden Teile des Luna Parks in ein Geisha Bereich umgewandelt.[1][3][7] Obwohl es so viele attraktive Optionen zur Freizeitgestaltung in Shinsekai gab, wurde der Luna Park stetig weniger besucht. Dementsprechend schloss der Park 1923 seine Tore und wurde in einen Straßenbahnabstellbereich umgewandelt.[1][8]
In der Vorkriegszeit wurde Shinsekai als zugänglich für alle gesellschaftlichen Schichten beschrieben. Dadurch konnte sich der Bereich von anderen Vergnügungsvierteln in Ōsaka abgrenzen, welche für untere Schichten kaum zugänglich waren. Andere zeitgenössische Quellen beschreiben Shinsekai speziell als Viertel der Jungen und berichten, dass reiche Bewohner den Bereich gezielt verlassen haben, da er ihnen zu runtergekommen war. Insgesamt galt der Bereich so als facettenreiches, günstiges und modernes Vergnügungsviertel, welches speziell für Shopping, Entertainment und die Rotlichtbereiche bekannt war. [3]Zerstörung und Wandel Shinsekais
Im Krieg wurde Shinsekai stark zerstört, zunächst beim Wiederaufbau vernachlässigt und verlor an Bedeutung. Dadurch entwickelte sich der Stadtteil zum lokalen Einkaufsbereich und sogenannten Vergnügungsviertel der alten Männer.
Kriegs- und Nachkriegszeit
In der Kriegszeit hat Shinsekai starke Veränderungen durchlebt. Zunächst wurde der Tsutenkaku Turm im Jahr 1943 durch ein Feuer am anliegenden Theater schwer beschädigt und schließlich zur Stahlgewinnung demontiert.[1][7] Im Jahr 1945 wurde das gesamte Gebiet Shinsekais durch Luftangriffe und dadurch entstehende Feuer schwer beschädigt.[3] Lediglich das Rotlichtviertel Tobita Shinchi im Süden blieb weitestgehend unbeschadet.[7]
Nach dem Krieg gab kaum Bemühung zum Wiederaufbau Shinsekais. Das Viertel galt demnach als weniger schön im Vergleich zu anderen Stadtteilen wie Dōtonbori und verlor an Beliebtheit als Vergnügungsbereich. Trotz des Zoos und Museums im Tennōji Park war das Viertel durch die Nähe zum Rotlichtviertel und den Slums auch bei Familien unbeliebt. So wandelte sich Shinsekai zunächst zur Einkaufsmeile für die ansässige Bevölkerung.
Wandel zu einem Vergnügungsbereich der alten Männer
Dank einiger Kinos und dem Wiederaufbau des Tsutenkaku Turms im Jahr 1956 erhob sich Shinsekai erneut als Vergnügungsbereich. So erhielt das Viertel seinen Ruf als günstigen Unterhaltungsbereich mit einer Mischung aus Eleganz und Obszönität wieder.[3] Diese Rückkehr zu den alten Hochtagen Shinsekais war jedoch nicht von langer Dauer. Ab den 1960ern schlossen nach und nach die Kinos des Viertels, da sich die Unterhaltung insbesondere durch die Verbreitung des Fernsehens wandelte. Zeitgleich waren weite Bereiche Shinsekais von Bauarbeiten betroffen, da für die Internationale Expo 1970 eine U-Bahn unter dem Viertel verlegt wurde. Weiterhin mussten durch das Anti-Prostitutionsgesetz von 1958 viele Bordelle in der Gegend schließen und staatliche Fördergelder wurden lieber in Einkaufszentren investiert als in Einkaufsstraßen wie Shinsekai.[3]
Entgegen den Erwartungen konnte auch die Internationale Expo 1970 keinen wirtschaftlichen Aufschwung in das Gebiet bringen. Tatsächlich war die Entwicklung eher gegensätzlich. So ließen sich die Arbeiter, die zum Aufbau der Expo nach Ōsaka gekommen sind, insbesondere in Shinsekai und den naheliegenden Slums nieder. Dadurch verschob sich das demographische Bild – statt Familien wohnten ab den 70er hauptsächlich alleinstehende Männer im Gebiet. Passend zu den Bedürfnissen der neuen Bevölkerungsverteilung erfreuten sich insbesondere Pachinko Hallen und Izakaya großer Beliebtheit. Shinsekais Image änderte sich daher zum ‘Vergnügungsviertel für alte Männer’( おっちゃんたちの盛り場).[3]
Neugestaltung von Shinsekai durch die Stadt und medialen Einfluss
Um dem Gebiet neues Leben einzuhauchen und dem Verfall entgegenzuwirken, startete die Stadt schließlich Sanierungsbemühungen. Zusätzlich lief im nationalen TV ein Drama mit Location in Shinsekai, welches die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit weckte.
Wiederbelebungsversuche der Stadt
Erst in den 80ern erwachten Bemühungen das Viertel wieder als Vergnügungsbereich zu etablieren. Dabei standen die Erneuerung des Stadtbildes und das Schaffen neuer Attraktionen im Vordergrund. Zunächst wurde so für die Gartenschau im Jahr 1990 der Tennōji Park generalüberholt, später wurde das Viertel durch Erneuerung der Straßen und Laternen verschönert und 1997 öffnete der neue Freizeitpark Festival Gate.
Während all diese Änderungen offiziell ausschließlich die Stadt verschönern und junge Besucher anlocken sollten, ist durchaus ersichtlich, dass zudem Obdachlose und Bewohner der Slums aus dem Viertel vertrieben werden sollten. So wurde im Tennōji Park nach der Neueröffnung eine Eintrittsgebühr eingeführt, die erneuerten Straßen boten weniger Platz zum Rumlungern und später wurden einige Einrichtungen der ärmeren Schichten wie das Open Air Karaoke am Tennōji Park geräumt.[3][12]Tourismus-Boom durch medialen Einfluss
Während Shinsekai damit rang sein Image aufzupolieren und erneut zu einem modernen Vergnügungsbereich zu werden, startete 1996 auf NHK die TV-Serie Futarikko.[12] Die Serie spielt in Shinsekai und hat das Viertel über Nacht in ganz Japan bekannt gemacht. Insbesondere der nostalgische Charme des Viertels wurde von den Zuschauern der Serie gut aufgenommen. Plötzlich reisten so viele Touristen nach Shinsekai, die Besucherzahlen stiegen und die Wirtschaft im Viertel erholte sich.[3]
Angesichts der steigenden Tourismuszahlen ließen sich ab 2000 viele große Kushikatsu-Restaurants mit prunkvoller Außenwerbung nieder, welche besonders von Gruppen, Familien und Touristen gut aufgenommen wurden. So wandelten sich erneut die Besucher Shinsekais, Pachinko Hallen wurden verdrängt und das Image des Vergnügungsbereichs für alte Männer abgeschüttelt.[3]
Shinsekai heute – Shōwa Nostalgie und Retro-Feeling
Im Gegensatz zum ursprünglichen modernen und internationalen Viertel, gilt Shinsekai heute als Retroviertel und erinnert Besucher an die Shōwa Zeit. Aktuell locken viele Attraktionen wie der Tsutenkaku Turm[14], eine Spa-Vergnügungslandschaft[15] und der Tennōji Zoo junge Leute und Familien an.[3] Nostalgisches Feeling kommt zudem beim Besuch der Retro Gamecenter, Straßenstände und alteingesessenen Restaurants auf.[16][17]
Im Gegensatz dazu schaffte es der Festival Gate Vergnügungspark nicht Besucher anzuziehen. So musste dieser 2007 schließen, nachdem auch Versuche Künstler auf dem Gelände anzusiedeln fehlgeschlagen sind.[12] Heutzutage findet man auf dem Gelände einen MEGA Don Quijote.
Bis heute bleiben zudem viele günstige Einrichtungen und als obszön geltende Etablissements bestehen. So scheint das nahegelegene Rotlichtviertel weiterhin aktiv zu sein.[7][12] Innerhalb Shinsekais sind zudem Erotikkinos bzw. Videoboxen beliebt, welche sich zu einem beliebten Treffpunkt der Crossdressing Community entwickelt haben.[18] Schlussendlich gilt der Bereich Airin im Süden Shinsekais trotz Gentrifizierungsbemühungen weiterhin als Slum und beherbergt viele Obdachlose und Geringverdiener.[19]
Fazit und Ausblick
In seiner nur etwas über 100 Jahre langen Geschichte hat Shinsekai viel durchlebt und sich ständig gewandelt. In den Anfängen als modernes Vergnügungsviertel wurden alle gesellschaftlichen Schichten und insbesondere junge Menschen angesprochen. Durch Schäden im Krieg entwickelte sich das Gebiet zur lokalen Einkaufsstraße, welche nur kurzzeitig als Kino-Hotspot Besucher aus anderen Stadtteilen anlocken konnte. Mit dem Schließen der Kinos wandelte sich Shinsekai zum Vergnügungsviertel der alten Männer und erhielt wenig Modernisierung. Schlussendlich weckte jedoch genau dies das Interesse der Bevölkerung, welche durch eine TV-Serie auf den Bezirk aufmerksam wurde und Shinsekai zu einem beliebten Touristenziel mit Nostalgiefaktor erklärte.
Sicherlich wird sich Shinsekai auch in Zukunft stets weiterentwickeln. Aktuell finden sich gerade in den Slums im Süden vermehrt Touristen wieder und bereits 2022 sollen große Hotels in dem Bereich öffnen.[12][20] Ob diese – gerade angesichts der weltweiten Pandemie – die von der Stadt erhoffte Gentrifizierung bringen, bleibt abzuwarten. Zudem steht 2025 bereits die nächste Internationale Expo auf dem Programm, welche Touristen aus aller Welt nach Ōsaka locken und die Stadt als moderne Metropole präsentieren soll.[21]
Ich bin sehr gespannt was die Zukunft für Shinsekai bringt, hoffe aber, dass das Retro-Futuristische Feeling und die leichte Obszönität das Viertels erhalten bleibt.
Warst du bereits in Shinsekai? Was ist dein Eindruck des Viertels? Hinterlass’ doch einen Kommentar oder schreib’ mir auf unseren Social Media Kanälen wie Instagram oder Twitter.
Was man so in den anderen Vierteln Ōsaka machen kann, erfährst du in unserer Übersicht zur Stadt.
Quellen
[1] https://shinsekai.jp/history
[2] https://ndl.go.jp/exposition/e/s1/naikoku5.html
[3] Yagi, H. (2015). Toshin hankagai ni okeru shōtengai katsudō no toshi shakaigakuteki kenkyū: Ōsaka “Shinsekai” chiiki ni okeru shōtenkai soshiki to chiiki imēji no henyō [An urban sociological study of the shopping street “Shinsekai” in the central part of the metropolis of Ōsaka: On a changing of shopping street organization and regional image (Unpublished doctoral dissertation)]. Ōsaka City University, Ōsaka, Japan. https://doi.org/10.24544/ocu.20171101-068
[4] National Diet Library Japan. https://dl.ndl.go.jp/info:ndljp/pid/801973/5
[5] National Diet Library Japan. https://dl.ndl.go.jp/info:ndljp/pid/801973/6
[6] https://www.Ōsakastation.com/shinsekai-and-the-tsutenkaku-tower/
[7] https://pinkvisitor.com/tobita-shinchi/
[8] http://www.to-kosan.com/rekishi/
[9] https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Original_Tsutenkaku_and_Shinsekai_aerial_tramway_2.jpg
[10] 毎日新聞社「一億人の昭和史 日本占領2」より. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Osaka_after_the_1945_air_raid.JPG
[11] FAL, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=245479
[12] Novak, David. „The arts of gentrification: Creativity, cultural policy, and public space in Kamagasaki.“ City & Society 31.1 (2019): 94-118. https://doi.org/10.1111/ciso.12195
[13] https://www2.nhk.or.jp/archives/search/special/detail/?d=asadra022
[14] https://www.tsutenkaku.co.jp/index.html
[15] https://www.spaworld.co.jp/english/
[16] https://www.japanvisitor.com/Ōsaka/shinsekai
[17] https://www.jrpass.com/de/blog/visit-shinsekai-Ōsaka-s-retro-futuristic-old-town
[18] Ishii, Yukari, and Lily Miyata. „How Can Mini Cinemas in the Kansai Area Embrace Male-to-Female Cross-Dressers and Their Communities Under Urban Renewal and Gentrification?.“ Sexuality & Culture 24.3 (2020): 946-966. https://doi.org/10.1007/s12119-019-09673-9
[19] Aoki, Hideo. „Homelessness in Ōsaka: globalisation, yoseba and disemployment.“ Urban Studies 40.2 (2003): 361-378. https://doi.org/10.1080/00420980220080311